Best of 2021: Alben
// Urs Musfeld
Hier meine Lieblingsalben 2021!
1. Little Simz: «Sometimes I Might Be Introvert»
Die Londonerin Little Simz gehört zu den vielseitigsten Rapperinnen dieser Tage. Auf ihrem Album «Sometimes I Might Be Introvert» verzahnen sich Politik und Privates. Sie rappt über die schwierige Beziehung zu ihrem Vater, soziale Ungerechtigkeit, ihre Rolle als schwarze Künstlerin in der britischen Gesellschaft und nimmt auch immer wieder Bezug auf Nigeria, das Heimatland ihrer Eltern. Ebenso raffiniert wie die lyrische ist die musikalische Ebene. Experimentierfreudig schöpft Little Simz aus den unterschiedlichsten Genres – von Grime, Neo-Soul, über Funk, Disco bis zu cineastischen- und Tribalsounds. Zeitgemässer und politischer Pop, der trotz inhaltlicher Tiefe immer melodisch bis tanzbar daherkommt.
2. Sons Of Kemet: «Black To The Future»
Der 37-jährige Shabaka Hutchings ist einer der wichtigsten Impulsgeber und Saxofonisten der jungen britischen Jazz-Szene. Er liebt allumfassende Konzepte mit philosophischem und gesellschaftspolitischem Tiefgang. Mit seiner Band Sons Of Kemet, besetzt mit zwei Schlagzeugern und einem Tubaspieler, spannt er auf dem Album «Black To The Future» den Bogen von der Sklaverei bis zur Ermordung Georges Floyds und der Black Lives Matter-Bewegung und wirft einen optimistischen Blick in die Zukunft. «Black To The Future» öffnet in jedem Moment neue Klangsphären. Ein dynamisches musikalisches Konglomerat aus Spiritual Jazz, Dub, Grime, Funk und Afrobeat. Spoken Word-Gastbeiträge von Moor Mother oder Kojey Radical betonen die politische Aussagekraft.
3. Nick Cave, Warren Ellis: «Carnage»
«Carnage» («Gemetzel») heisst das Album, das Nick Cave mit seinem langjährigen musikalischen Begleiter Warren Ellis eingespielt hat. Zwei Künstler, die längst auf einer intuitiven Ebene miteinander funktionieren. Flirrende Elektronik, Gospelanklänge, orchestrale Teile, sanftes Piano und Caves mal gesungene, mal rezitierte Texte bilden das Zentrum der hypnotischen Stücke. Acht Songs, die tiefer in unserer Befindlichkeit schürfen, dort, wo die Krise Ängste und Hoffnungen freigelegt hat. Cave macht Corona nicht zum Thema, wohl aber zum Resonanzraum. Er findet zu seinen alten Themen zurück: Schuld und Erlösung, Glaube und Zweifel, Tod und Liebe. Gleichzeitig ist «Carnage» der Versuch, die Grenzen dessen, was ein Song sein kann, neu auszuloten: Suite, Gebet, Hymnus, Collage, Reprise. Oder alles zugleich.
4. The Weather Station: «Ignorance»
Bisher war die kanadische Songwriterin Tamara Lindeman eher im klassischen Folk oder Americana-Genre zu Hause. Ihre Stimme wird oft mit Joni Mitchell verglichen. Für ihr Album «Ignorance» liess sich die Weather Station-Frontfrau jedoch von Disco und New Wave beeinflussen. Aus dem ehemals reduzierten Folk ist nun Pop mit Jazzeinfluss geworden, nuancenreich und elegant. Klavier und Keyboards ersetzen die Gitarre als wichtigstes Instrument, während eindringliche Beats das Sendungsbewusstsein der 36-jährigen Sängerin wirkungsvoll unterstreichen. Diesmal kreisen Lindemans betont emotionale Lieder Mal nicht nur um die Fallstricke des Zwischenmenschlichen, sondern stellen vor allem ihr Umweltbewusstsein und ihre Sorge um die Folgen des Klimawandels in den Mittelpunkt.
5. Masha Qrella: «Woanders»
Die Berliner Musikerin Masha Qrella hat auf ihrem Album «Woanders» Gedichte des Schriftstellers Thomas Brasch (1945–2001) in beglückende Popmusik über die gesamtdeutsche Identitätssuche verwandelt. Braschs Texte, für sich schon ausgeprägt rhythmisch, bringen das Existenzielle und das Politische zusammen. Wer bin ich? Wo will ich hin? Wo ist mein Zuhause? Die 17 Stücke kreisen um die grossen Lebensthemen, endgültige Antworten gibt es nicht. Sie beschreiben das Leben zwischen zwei Welten, zwischen Ost und West, zwischen Vergangenheit und Gegenwart beschreiben. Stilistisch bewegt sich «Woanders» zwischen Post Punk, Kunstlied und Clubmusik. Masha Qrellas aufs Nötigste reduzierte Songs klingen mal soghaft, mal sphärisch, aber immer absolut eigenwillig.
6. Floating Points, Pharoah Sanders: «Promises»
«Promises» ist ein genre- und kulturübergreifendes Gemeinschaftswerk des britischen Soundtüftlers Floating Points, des 81-jährigen amerikanischen Saxofonisten Pharoah Sanders und des London Symphonic Orchestra. In der 46-minütigen Komposition, unterteilt in neun ineinander übergehende Stücke, werden Klassik, Jazz und elektronische Musik eindrücklich miteinander verwoben. Vergangenheit trifft auf Gegenwart und Zukunft, Komposition auf Improvisation. Ein emotionales, sich langsam und meditativ entfaltendes Spiritual Jazz-Album im Stil der 1960er- und 1970er-Jahre, mit modernen Produktionsmitteln ins Heute übersetzt.
7. Dry Cleaning: «New Long Leg»
Dry Cleaning aus Süd-London spielen sich auf ihrem Debut-Album «New Long Leg» von Anfang bis Ende durch ihren minimalistischen Post-Punk-Kosmos, angereichert durch New Wave- und Noise-Elemente. Die Band versteht es, ungestüme Kulissen für die Geschichten ihrer Sängerin Florence Shaw zu kreieren. Mit ihrem sonoren, intensiven und charismatischen Sprechgesang schafft sie eine Art Gegenpol zum spröden Sound. In den Texten geht es um witzige Alltagsbetrachtungen, Brexit oder toxische Männlichkeit. Meist überwiegen aber kryptische, assoziative Wortketten. «New Long Leg» ist der gelungene Versuch, das Chaos, das uns umgibt, in Musik zu fassen und auszubalancieren.
8. The Notwist: «Vertigo Days»
Seit 30 Jahren spielen The Notwist eine sehr eigenständige Melange aus Indierock, Jazz, Elektronik, Pop und Krautrock.Die Band um die Brüder Markus und Micha Acher aus dem oberbayrischen Weilheim hat es geschafft, die eigene Musik ständig zu verfeinern, ohne ihre Identität einzubüssen und an Attraktivität zu verlieren. Auf «Vertigo Days» finden sich zum ersten Mal Gaststimmen (Angel Bat Dawid, Juana Molina oder Ben LaMar Gay). Obwohl multilingual (englisch, französisch, spanisch, japanisch) erwecken die Songtexte das Gefühl eines zusammenhängenden Gedichts. Verse über Liebe, Politik und die Unwägbarkeiten einer unübersichtlichen Gegenwart. Das Album zeichnet sich aus durch Vielfalt, Toleranz und Offenheit. Ein Wechselspiel, eine stetige Suche nach Harmonie in einer chaotischen Klangwelt.
9. La Femme: «Paradigmes»
La Femme mögen die extremen Gegensätze und die Vermischung der Genres. Das Kalte, Digitale und das Organische der Instrumente ist ihr Sound. Seit ihrem Debut-Album (2013) feiern die Wahlpariser ihre ausgelassene Retro-Ästhetik. Diesen bandtypischen Sound aus Psychedelic-Rock, Yéyé der 1960er-Jahre bis hin Cold Wave der 1980er gibt es auch auf dem dritten Album «Paradigmes» zu hören. Durch die Öffnung hin zu klassischer Instrumentierung und der Hereinnahme einiger Bläser klingt das Ganze überwiegend analog. Eine herrlich absurde Mélange aus Nostalgie mit Retrocharme und futuristischen Synthesizern mit tanzbaren Discoflair.
Nachdem sich die Wahl-New Yorkerin Michelle Zauner mit ihrem Projekt Japanese Breakfast auf ihren letzten beiden zwei Alben mit dem Krebstod ihrer Mutter auseinandergesetzt hast, beschreibt «Jubilee» den Versuch, wieder ins Leben zurückzufinden und Freude zuzulassen. Statt Trauer ist es nun ihre Nostalgie, die zukunftsträchtig erscheint.In vielen der Tracks findet sich eine Hommage an die 1980er-Jahre. Trotzdem schafft es die Band, zeitgemäss zu klingen. Mit Saxofon, Klavier, Drumcomputer und anderen elektronischen Elementen demonstrieren Japanese Breakfast die gleiche Detailverliebtheit, die auch aus Zauners Texten spricht.