Best Of 2020: Alben

// Urs Musfeld

Hier meine Lieblingsalben 2020!

1. Sault: «Untitled (Black Is)»

Mit «Untitled (Black Is)» und «Untitled (Rise)» haben Sault gleich zwei Alben in einem Jahr veröffentlicht. Beide enthalten sowohl kämpferische als auch feierliche Elemente. Die geballte schwarze Faust der Black-Power-Bewegung auf dem Cover von «Untitled (Black Is)», verbunden mit einem expliziten Bekenntnis zu Black Lives Matter, lässt keinen Zweifel an der politischen Ambition. Der Soundtrack des Widerstands gegen Rassismus und Unterdrückung als globale Phänomene manifestiert sich eine Stunde lang in 20 Songs und Stücken. Sault verwandeln Wut in Würde. Die drei People Of Color - Produzent und Mastermind Inflo, Sängerin Cleo Sol, beide aus London und Rapperin Kid Sister aus Chicago - schlagen einen weiten Bogen von Field Music, Doo Wop, Gospel über Soul, Funk bis zu Hip Hop und aktueller Bass-Musik. Spoken Word-Passagen führen zurück in die 1960er-Jahre zu Malcolm X und den Black Panthers. Der Song «Wildfires» verweist auf den ermordeten George Floyd: «We all know it was murder. Murder, murder, murder …»

2. Fiona Apple: «Fetch The Bolt Cutter»

Seit Beginn ihrer Karriere hat sich Fiona Apple als selbstbewusste Künstlerin eingeführt. Auch auf ihrem fünften Album «Fetch The Bolt Cutter» erzählt die 43-jährige Wahl-Kalifornierin von verletzlichen wie widerständigen Seiten. Die Wut ist unmissverständlich. Sie richtet sich gegen systematische Begünstigungen und Vertuschungen von sexueller Gewalt und erscheint zusätzlich befeuert durch die Anstrengungen und Erfolge der #MeToo-Bewegung. Ein zentrales Motiv sind die Auswüchse von Männlichkeit. Apple singt ihre explizit politischen Texte über kleine Aggressionen und rohe Gewalt nicht einfach – sie knurrt, wehklagt und ätzt, lebt sie aus bis zum Maximum. Das Klavier, ihr Stamminstrument, spielt längst nicht mehr die zentrale Rolle. Mag die Musik noch so tief im Folk verwurzelt sein, unterschwellig schwingt der Hip Hop mit. Zentral auf vielen Liedern ist der Rhythmus: Apple lässt ihn pulsieren und rumpeln, ein normales Schlagzeug gibt es nur selten. Ein omnipräsentes Knarzen und Klatschen zieht sich durch das Album. Trotz emotionaler und klanglicher Komplexität ist «Fetch The Bolt Cutter» nicht nur sperrig. Apples Geschichten haben sowohl Identifikations-, als auch Unterhaltungswert.

3. Makaya McCraven: «We`re New Here - A Reimagining by Makaya McCraven»

2011 starb der amerikanische Funk-und Soul-Poet Gil Scott-Heron im Alter von 62 Jahren. 2010 erschien sein letztes Album «I`m New Here». Nach dem Original und dem Remix-Album von Jamie XX (2011) wurde in diesem Jahr die dritte, die Jazz-Version veröffentlicht. Auf «We`re New Here – A Reimagining by Makaya McCraven» hat der Chicagoer Schlagzeuger Makaya McCraven das Material neu bearbeitet und instrumentiert. Zurückgegriffen hat er auf Scott-Herons Stimme und Zeilen, ansonsten lässt er seinen Beats und Sounds freien Lauf. Schmerz und Blues, Tiefe und Soul, afroamerikanisches Geschichtsbewusstsein und Jazz, sogar Old School Hip Hop stecken in McCravens abwechslungsreicher und gelungener Interpretation: jeder Song ein neues Romankapitel. Unterstützt von seiner Stammband gelingt es ihm, eine pulsierende Entsprechung für den Satz zu finden, der wie ein Motto über Scott-Herons Lebenslauf steht: «I did not become someone different that I did not want to be.» («I`m new here»)

4. Liraz: «Zan»

Liraz Charhi, Tochter iranischer Juden, wurde 1978 in Israel geboren. Das kulturelle Erbe ihrer Eltern entdeckte sie erst spät. In Los Angeles, der Heimat der grössten iranischen Exilgemeinde weltweit, stiess die Sängerin und Schauspielerin auf alten persischen Pop aus den 1970er-Jahre. Ihr zweites Album «Zan» hat sie auf Farsi aufgenommen – heimlich und auf digitalen Wegen, mit mehr als einem Dutzend Künstler*innen aus Iran. Sie schrieben gemeinsam an den Texten, Musiker*innen schickten Audiodateien mit ihrem Trommelspiel von Teheran nach Tel Aviv, andere zupften für Liraz die iranische Langhalslaute Tar. Persönlich getroffen haben sie sich nie. Um sie vor Repression zu schützen, erscheinen sie auf dem Album nicht mit richtigem Namen. «Meine Grossmütter wurden mit elf und zwölf Jahren verlobt», sagt Charhi. «Sie kämpften für ihre Freiheit, wurden aber zum Schweigen gebracht. Ich kämpfe nun für meine Freiheit und die der Iranerinnen, indem ich in meinen Songs Geschichten über sie erzähle«.

5. Phoebe Bridgers: «Punisher»

Ihr Debut Album «Stranger In The Alps» von 2017 machte Phoebe Bridgers aus L.A. zum Szene-Star. Es folgten eine EP mit dem Songwriterinnen-Projekt Boygenius, zusammen mit Julien Baker und Lucy Dacus, sowie ein gemeinsames Album mit Conor Oberst unter dem Namen Better Oblivion Community Center. Auf ihrem zweiten Solo-Album «Punisher» bedient sich die 26-Jährige einer breiteren Klangpalette, ergänzt mit E-Gitarre oder Synthesizern ihren skeletthaften Emo-Folk. Bridgers Songwriting verknüpft universale Themen mit fiktionalen und autobiographischen Anekdoten, steckt aber gleichzeitig voller humorvoller Beobachtungen. Scheinbar mühelos pendelt sie zwischen unberührbarer Coolness und Verletzlichkeit. Der vergnüglichste Song «Kyote» kombiniert hymnischen Indie-Pop mit euphorischem Folk-Rock, schwelgende Bläserarrangements inklusive.

6. Shabaka And The Ancestors: «We Are Sent Here By History»

Von der Space-Jazz-Formation The Comet Is Coming zu seinem eigenen Quartett Sons of Kemet - der britische Tenorsaxophonist Shabaka Hutchings erlebt seit Mitte der 2010er Jahre einen rasanten Aufstieg in der weltweiten Jazzszene. Sein einerseits meditativer, andrerseits rauer Ton ist zu seiner klanglichen Handschrift geworden. Gemeinsam mit südafrikanischen Musikern erkundet er unter dem Namen Shabaka And The Ancestors die Möglichkeiten einer gemeinsamen Musiksprache vor unterschiedlichen kulturellen Hintergründen. Das Ensemble verbindet auf seinem zweiten, geschichtsbewussten und politischen Album «We Are Sent Here By History» auf mitreissende Art spirituellen Jazz mit Nguni-Musik, Blues, südafrikanischen Partyklängen und karibischem Calypso. Das Saxofon von Hutchings versucht sich quasi als Klammer zwischen London und Johannesburg.

7. Porridge Radio: «Every Bad»

«Every Bad», das zweite Album von Porridge Radio, klingt rau und unberechenbar. Die Band von Dana Margolin aus Brighton übersetzt Verunsicherung in Ekstase, streift Indie-Rock, Dream Pop und Shoegaze. Das Spiel zwischen leise und laut, zärtlicher Melodie und im nächsten Moment brutalem Riffgewitter entfaltet eine besondere Dynamik. Egal in welche Richtung sich ihre Musik bewegt, Margolins Gesang, der mal inbrünstig-entschlossen, mal zornig-verzweifelt klingt, hält alles zusammen. Ihre tagebuchartigen Texte sind kurze, einfache Statements, mantra-artig wiederholt – eine wütende Meditation: «I am charming, I am sweet / I am charming, I am sweet» («Sweet»). Eine besondere Kraft von «Every Bad»liegt aber auch darin, Teenage-Angst zu etwas Gemeinschaftsstiftendem zu machen: «I don’t want to get bitter/ I want us to get better/ I want us to be kinder/ to ourselves and to each other» («Lilac»). Schon lange nicht mehr tönte Gitarrenmusik so intensiv und relevant.

8. Kelly Lee Owens: «Inner Song»

Um die Aufarbeitung persönlicher Traumata geht es der in London lebenden Waliserin Kelly Lee Owens auf ihrem zweiten Album «Inner Song». Nicht ein stromlinienförmiger Genuss soll das Hörerlebnis dieser Platte prägen, sondern eine Konfrontation mit vielen verschiedenen emotionalen Zuständen und Affekten.  Die tiefen Bässe und verspielten, bildlichen Klänge ihres Synthesizers, sowie dumpfe Drums und synthetische Streicher-Sounds sind stilgebend für ihr minimalistisches Klanggewand. Ihre düsteren Beats verbinden Einflüsse von Ambient, House, Techno und sphärischem Pop und stehen im Kontrast zu Owens klarer, hoher Stimme. Auf dem sperrigen und harten Techno-Track «Melt» verarbeitet sie Samples von zerbrechendem Eis und sieht das Stück als Kommentar zum Klimawandel. Für das Spoken Word-Feature «Corner of my sky» holte die 32-jährige Musikerin Velvet-Underground-Gründungsmitglied John Cale, ebenfalls Waliser, als Gast.

9. Thiago Nassif: «Mente»

Nach HipHop und dem populären Elektro-Stil Baile Funk aus den Favelas ist in Rio längst eine kleine, neue Szene entstanden, die sich experimentellem Pop verschrieben hat: Bands, die Noise und No Wave mit lokalen Stilen verbinden. Zu den wichtigsten Akteuren gehört der Musiker, Komponist und Produzent Thiago Nassif. Mit «Mente» hat er ein sperriges wie interessantes Album vorgelegt, das sich frei zwischen den Stilen bewegt. Zehn überwiegend auf Portugiesisch vorgetragene collagenhafte Songs, die mal nach No Wave und Post-Jazz klingen, dann aber auch wieder deutliche Einflüsse von Tropicália und Samba aufweisen. Wie bereits bei der Vorgängerplatte «Tres» wirkt der in Brasilien aufgewachsene No Wave-Pionier Arto Lindsay als Koproduzent mit und spielt auf einigen Stücken Gitarre. Die Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit von Nassifs Musik spiegelt sich auch im Albumtitel: Der meint eigentlich «Geist» oder «Verstand», könnte aber auch vom Verb «lügen» abgeleitet sein. Ein bewusster Kommentar zu dem, was Nassif den «Post-Wahrheits»-Zustand des politischen Regimes in Brasilien nennt.

10. Nadine Shah: «Kitchen Sink»

Nadine Shah, Engländerin mit Wurzeln in Norwegen und Pakistan, ist Meisterin darin, Themen gleichzeitig sehr ernst und durchtrieben zu behandeln. Ihr 2017er-Album «Holiday Destination» handelte vom Krieg im Nahen Osten und der Ignoranz des Westens. Auf «Kitchen Sink» («Schüttstein») thematisiert Shah nun ebenso verspielt wie tiefgründig überkommene Geschlechterklischees, Sexismus und die Vereinbarkeit von Feminismus mit traditionellen Beziehungsmodellen. Ähnlich wie bei den Kinks oder den Pulp geht es um die Repräsentation sozialen Lebens mit bitter-galliger Note und schwarzem Humor. Inspiriert von den Talking Heads und der überschwänglich bunten Sesamstrassen-Atmosphäre wechseln die Songs zwischen Post Punk und Pop und treiben mit orientalischen Akzenten in unerwartete Richtungen.

Weitere...

11. Bob Dylan: «Rough And Rowdy Ways»

12. Helena Deland: «Someone New»

13. The Flaming Lips: «American Head»

14. Fleet Foxes: «Shore»

15. L.A. Salami: «The Cause Of Doubt & A Reason To Have Faith»

16. Jane Birkin: «Oh! Pardon Tu Dormais...»

17. Jeff Parker: «Suite For Max Brown»

18. Perfume Genius: «Set My Heart On Fire Immediately»

19. Adrianne Lenker: «Songs»

20. Stuart Moxham & Louis Philippe: «The Devil Laughs»

 

 

 

 

 

 

 

 

 
 
 

Urs Musfeld

 Urs Musfeld

SRF «Sounds!»-Musikredaktor von 1980-2017, 
noch immer unterwegs in den unendlichen Weiten des Musik-Dschungels mit dem Ohr für das Besondere.

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